In Théophile Gautiers Roman Avatar (1856) begegnet dem Leser die romantische Theorie vom Vermögen der Kunst, im unendlichen Fluss der Zeichen auf das Absolute verweisen zu können, nur mehr als Wiedergänger: Jener Geist, an dem die Dinge zu partizipieren scheinen, präsentiert sich in der Erzählung selbst auf seine Form reduziert; er wird dadurch zur Chiffre einer Reflexion der Literatur auf ihre Mittel, die nicht mehr an eine metaphysische Verweisbewegung gebunden ist. Wo allein der Signifikant über die Bedeutung gebietet, tritt die Frage von Echtheit und Fälschung zunehmend in den Hintergrund: ununterscheidbar, ob die Landschaften, die Gautier beschreibt, in den üppigen Dekorationen der Weltausstellung im Palais de l’industrie (1855) oder auf seinen vielfältigen Reisen ihre Inspiration fanden; die Intérieurs zeigen Kunstgegenstände als industrielle Produkte, Realität gerinnt in Tableaus zu funkelnden Beschreibungen sprachlich-materiellen Dekors. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelobte Fähigkeit der französischen Literatur, Fremdes zu assimilieren, entwickelt Gautier zu einem Verfahren intertextueller Transparenz, das dem Baudelaire’schen recueillement entspricht: Dichter und Maler sind als Vorbilder und Urheber namentlich genannt und steuern maßgebliche Motive zur Textkonstitution bei. So löst sich die Idee eines originalen Textes in diesen Bezügen auf; so zeigen sich die Signifikanten im neuen, nicht mehr unschuldigen Bewusstsein ihrer Materialität. Dieser Primat des Äußeren regelt zudem die Figurengestaltung: Prascovie Labinska ist nicht nur der Anlass für die schwelgende Opulenz in der Beschreibung ihres Ornats, auch ihr Name selbst wird als Perle metaphorisiert und Silbe für Silbe in der schillernden Syntax der Dinge rein durch sein sprachliches Material zum Reden gebracht: Er bezieht im Gefüge des Textes seine musikalische, affektive und ökonomische Wertigkeit, die ihn aus den Verwicklungen des Handlungsgefüges unbeschadet hervortreten lässt: Wo die Wesen solcherart nur noch in ihren kostbaren Bezeichnungen ihr Dasein fristen, verfügt das gestaltende Kalkül des Dichters bereits mit dem Austausch zweier Namen über das entscheidende Motiv der Erzählung: Denn Gautier inszeniert als Ausweg aus einer Dreiecksbeziehung um Prascovie die Metempsychose zweier Assonanzen: Octave und Olaf konkurrieren in ihrer Zuneigung, und als sich der eine im Körper des andern den bisher verweigerten Zugang zu ihr verschafft, wird er dennoch von ihr der Täuschung überführt: seine Melancholie, Residuum empfindsamer Kontemplation, verrät ihn. Seines Lebenswillens verlustig, ergibt er sich dem eigenen Ende, während der rechtmäßige Ehemann Olaf, ideale Verkörperung saint-simonistischer Fortschrittsideologie, als lebenstüchtiger richissime die bürgerliche Ordnung weiterzu-verlängern bestimmt ist. Mesmerische, yogisch-asketische und okkulte Praktiken sowie die geheimen Sympathien und Energien zwischen den Körpern der Protagonisten bilden im Hintergrund des Textes das dramaturgische Fluidum, welches die Kohärenz der Signifikanten in ihren Substitutionsprozessen aufrechterhält. Doch selbst die mesmerische Seelenmaschine trägt das Gepräge genau jener technischen Vernunft, die sie zu kritisieren sucht. Ist Gautier in dieser Ambivalenz damit nur einer jener „dummen Kerle“, wie Adorno die Okkultisten nennt? Mitnichten. Die Sprache der Dinge spricht vielmehr in seinem Werk umso wirkungsvoller, als sie sich im Spiegelbild des l’art pour l’art ihrer Mittel versichert in einer Preziosität, die Wort und Material auf eine Kette zieht: als „Vers, marbre, onyx, émail.“ Der Literatur verhilft Gautier damit zu einer neuen sprachlich-materiellen Präsenz, in der die Moderne funkelt wie der Mythos im sagenhaften Diamanten Koh-i-Noor, den die Weltausstellung in einem goldenen Käfig zur Schau stellte.

Verflüssigung und Kristallisation. Das Material der Literatur in Théophile Gautiers Avatar / Reidenbach, Christian. - STAMPA. - (In corso di stampa), pp. N/A-N/A.

Verflüssigung und Kristallisation. Das Material der Literatur in Théophile Gautiers Avatar

REIDENBACH, CHRISTIAN
In corso di stampa

Abstract

In Théophile Gautiers Roman Avatar (1856) begegnet dem Leser die romantische Theorie vom Vermögen der Kunst, im unendlichen Fluss der Zeichen auf das Absolute verweisen zu können, nur mehr als Wiedergänger: Jener Geist, an dem die Dinge zu partizipieren scheinen, präsentiert sich in der Erzählung selbst auf seine Form reduziert; er wird dadurch zur Chiffre einer Reflexion der Literatur auf ihre Mittel, die nicht mehr an eine metaphysische Verweisbewegung gebunden ist. Wo allein der Signifikant über die Bedeutung gebietet, tritt die Frage von Echtheit und Fälschung zunehmend in den Hintergrund: ununterscheidbar, ob die Landschaften, die Gautier beschreibt, in den üppigen Dekorationen der Weltausstellung im Palais de l’industrie (1855) oder auf seinen vielfältigen Reisen ihre Inspiration fanden; die Intérieurs zeigen Kunstgegenstände als industrielle Produkte, Realität gerinnt in Tableaus zu funkelnden Beschreibungen sprachlich-materiellen Dekors. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelobte Fähigkeit der französischen Literatur, Fremdes zu assimilieren, entwickelt Gautier zu einem Verfahren intertextueller Transparenz, das dem Baudelaire’schen recueillement entspricht: Dichter und Maler sind als Vorbilder und Urheber namentlich genannt und steuern maßgebliche Motive zur Textkonstitution bei. So löst sich die Idee eines originalen Textes in diesen Bezügen auf; so zeigen sich die Signifikanten im neuen, nicht mehr unschuldigen Bewusstsein ihrer Materialität. Dieser Primat des Äußeren regelt zudem die Figurengestaltung: Prascovie Labinska ist nicht nur der Anlass für die schwelgende Opulenz in der Beschreibung ihres Ornats, auch ihr Name selbst wird als Perle metaphorisiert und Silbe für Silbe in der schillernden Syntax der Dinge rein durch sein sprachliches Material zum Reden gebracht: Er bezieht im Gefüge des Textes seine musikalische, affektive und ökonomische Wertigkeit, die ihn aus den Verwicklungen des Handlungsgefüges unbeschadet hervortreten lässt: Wo die Wesen solcherart nur noch in ihren kostbaren Bezeichnungen ihr Dasein fristen, verfügt das gestaltende Kalkül des Dichters bereits mit dem Austausch zweier Namen über das entscheidende Motiv der Erzählung: Denn Gautier inszeniert als Ausweg aus einer Dreiecksbeziehung um Prascovie die Metempsychose zweier Assonanzen: Octave und Olaf konkurrieren in ihrer Zuneigung, und als sich der eine im Körper des andern den bisher verweigerten Zugang zu ihr verschafft, wird er dennoch von ihr der Täuschung überführt: seine Melancholie, Residuum empfindsamer Kontemplation, verrät ihn. Seines Lebenswillens verlustig, ergibt er sich dem eigenen Ende, während der rechtmäßige Ehemann Olaf, ideale Verkörperung saint-simonistischer Fortschrittsideologie, als lebenstüchtiger richissime die bürgerliche Ordnung weiterzu-verlängern bestimmt ist. Mesmerische, yogisch-asketische und okkulte Praktiken sowie die geheimen Sympathien und Energien zwischen den Körpern der Protagonisten bilden im Hintergrund des Textes das dramaturgische Fluidum, welches die Kohärenz der Signifikanten in ihren Substitutionsprozessen aufrechterhält. Doch selbst die mesmerische Seelenmaschine trägt das Gepräge genau jener technischen Vernunft, die sie zu kritisieren sucht. Ist Gautier in dieser Ambivalenz damit nur einer jener „dummen Kerle“, wie Adorno die Okkultisten nennt? Mitnichten. Die Sprache der Dinge spricht vielmehr in seinem Werk umso wirkungsvoller, als sie sich im Spiegelbild des l’art pour l’art ihrer Mittel versichert in einer Preziosität, die Wort und Material auf eine Kette zieht: als „Vers, marbre, onyx, émail.“ Der Literatur verhilft Gautier damit zu einer neuen sprachlich-materiellen Präsenz, in der die Moderne funkelt wie der Mythos im sagenhaften Diamanten Koh-i-Noor, den die Weltausstellung in einem goldenen Käfig zur Schau stellte.
In corso di stampa
Théophile Gautier zwischen Romantik und Moderne
N/A
N/A
Reidenbach, Christian
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